Jeder kann knipsen, aber nicht jeder kann beobachten

Mehr und mehr hat uns die moderne Welt in der wir heute leben fest im Griff. Eine endlose Informationsflut bricht täglich über uns herein und zieht unsere Aufmerksamkeit wie magisch auf Smartphones und Tablets. Konditioniert wie ein Hund auf ein Glöckchen, das ihm Futter verspricht, geht der Griff zum „Zweithirn“, sobald der Klingelton aus dem Mobiltelefon ertönt. Eine schnelle Unterhaltung mittels Kurznachrichtendienst duldet jetzt keinen Aufschub und unbedingtmuss auch noch der letzte Schnappschuss von heute Mittag im sozialen Netzwerk hergezeigt werden.
In allen möglichen und unmöglichen Situationen werden reflexartig Kameras und Smartphones gezückt, Dinge fotografiert und Momente eingefangen. Im fälschlichen Glauben, unserem Gedächtnis auf diese Weise eine langfristige Verbindung zu unseren Erinnerungen zu verschaffen, lagern wir die Fotos dann auf terabyte-fassende Speichermedien, auf denen wir sie uns dann nie wieder ansehen. Bei einem Experiment hat die Forsherin Lisa Henkel kürzlich herausgefunden, dass sich Personen sogar schlechter an Objekte erinnerten, die sie zuvor in einem Museum fotografiert hatten, als Personen, die sich Objekte nur angeschaut hatten. Mit dem drücken des Auslösers, so folgerte Henkel, wird eine Mitteilung ans Gehirn gesendet, dass die Kamera die Information für „mich“ abspeichert. War die Auswahl der zu fotografierenden Kunstwerke jedoch auf nur wenige, ausgesuchte begrenzt, hob sich der Effekt des Vergessens auf und die Erinnerung funktionierte genauso gut wie bei Teilnehmern die nicht fotografiert hatten.
Was steckt nun aber hinter dem Vergessen und der angeblich schlechten Gedächtnisleistung?

Im Buch ‹Die Psyche› von Billy ist darüber folgendes nachzulesen:

Das Gedächtnis ist ein materieller Block und Faktor des materiellen Bewusstseins, das bei Mensch und Tier und bei anderen Gedächtnis besitzenden Lebensformen die Fähigkeit aufweist, Wahrnehmungen aller Art, sowie Erfahrungen, Erlerntes, Erlebtes, Gehörtes, Gefühltes und durch das Sinnvermögen aufgenommene Informationen aller Art zu speichern und später dem Materiell-Bewusstsein wieder zu vergegenwärtigen.


Weiter ist zu lesen, dass das Gedächtnis während der gesamten Lebensdauer einer Lebensform im materiellen Bereich stets über eine gleichbleibende hohe Leistungsfähigkeit verfügt und keinerlei Einbussen der Gedächtnisstärke zu befürchten ist. Kommt es aber trotzdem zu einem Nachlassen der Gedächtnisleistung, so ist hierfür keinesfalls ein schwaches oder getrübtes Gedächtnis verantwortlich, sondern ausschliesslich die gestörte Kommunikation zwischen materiellem
Bewusstsein und Gedächtnis:

So liegen die Ursachen von sogenannten Gedächtnisstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, Erinnerungsblockaden usw. teils nur im Mangel an Interesse des betreffenden Menschen oder in Überschüttung des Gedächtnisses mit Unrat, Sorgen und Problemen, mit Fixideen und sonstigen störenden Faktoren.
Werden diese Störfaktoren ausgeschaltet, dann funktionieren das Gedächtnis und die Konzentrationsfähigkeit ganz plötzlich wieder – wie durch ein Wunder.


Wie nun diese Störfaktoren zu beheben sind, ist im Buch ‹Die Psyche› von Billy nachzulesen. Da heisst es einmal, sich so viel wie möglich im Freien an der frischen Luft aufzuhalten, ausgedehnte Spaziergänge in Wald und Flur zu unternehmen und dabei darauf zu achten, alles genau zu hören, zu betrachten und wahrzunehmen:

Genaues Hören und genaue Betrachtung und Beobachtung lösen neutrale und positive Gedanken aus, andererseits heften sich diese im Gedächtnis fest als unauslöschbare Erinnerungen, wodurch Gedächtnis und Konzentrationskraft zurückerlangt oder gestärkt werden.

Ich habe als Beispiel die Fotografie gewählt, weil ich selbst oft genug gedankenlos drauflos knipse und dabei die wirkliche Atmosphäre gar nicht mehr richtig und vollständig mitbekomme. Das ist ärgerlich, aber ich bin der Meinung, beim Fotografieren steht man immer ein wenig ausserhalb des Geschehens und betrachtet sein Motiv aus der subjektiven Sicht eines Fotografierenden. Das Fotografieren nun rein negativ zu betrachten, davon halte ich nichts, denn schon oft hat mir das Fotografieren geholfen, von der Hektik des Alltags, den steigenden beruflichen Anforderungen, persönlichen oder zwischenmenschlichen Nöten und Problemen Abstand zu gewinnen und meine Psyche zu neutralisieren.

Worum es mir beim Fotografieren geht, ist das finden der Ruhe, das Ausblenden bzw. Loslassen jeglicher das Bewusstsein und die Psyche belastender Prozesse, das einfache Herunterfahren der üblichen Tagesroutinen, das sogenannte Hamsterrad zum stehen zu bringen. Auf meinen Fotos finden sich dann ureigenste optische Eindrücke meiner Wanderungen wieder. Die Suche nach dem Motiv ist immer eine spannende Sache, weil ich nie weiss, was mir heute auf meinem Weg alles begegnen wird. Egal ob ich einen Pfad wähle der mir bekannt ist und den ich schon oft gegangen bin oder ob ich neues Terrain betrete, die Eindrücke und die Atmosphäre sind immer anders und niemals gleich wie beim letzen Mal. Habe ich dann ein interessantes Objekt gefunden, macht sich gleich eine freudige Spannung in mir breit und die Vorfreude auf die kommenden Minuten wächst und wächst. Jetzt erfährt das Objekt meine grösstmögliche und vollste Aufmerksamkeit. Ein bewusstes Beobachten und Wahrnehmen dehnt sich kontinuierlich in mir aus. Oft wechsle ich noch einmal den Blickwinkel bis dieser mir passend erscheint:
Wie sind die Lichtverhältnisse, braucht es eine Korrektur von Blende oder Belichtungszeit, sind Wolken und Sonne stimmig, wohin im Bild will ich mein Objekt (Bildausschnitt), wie lasse ich den Horizont erscheinen – nah oder fern? Diese und weitere Aspekte gehen mir durch den Kopf, bevor ich den Auslöser drücke.
Sehen, entdecken, beobachten und zur Ruhe kommen. Meine Psyche dankt es mir jedes Mal damit, mich in einen wunderbar erholten und erfrischten Zustand zurück zu versetzen. Das ist es, was ich am Fotografieren besonders liebe.
Nichtsdestotrotz kommen mir auch manchmal Gedanken, die Kamera mal wieder zu Hause zu lassen, mich dem Augenblick hinzugeben und mir die Atmosphäre, das Motiv und die Stimmung ins Bewusstsein zu brennen und dort verweilen zu lassen. Eine Kamera stört dabei nur.

Anja Krämer